Was können wir aus der COVID-19-Krise lernen? Das FOPI, Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich, hat sich über den Sommer mit dieser Frage beschäftigt, und dazu Gespräche mit wichtigen Experten und Stakeholdern des österreichischen Gesundheitssystems geführt, die nun in einem Grünbuch zusammengefasst wurden. Auch unser Obmann Mag Jürgen E. Holzinger wurde miteinbezogen und hat einen Beitrag verfasst.
Diesen gibt es jetzt hier zum Nachlesen:
„Ängste sind ansteckend“
Die chronisch Kranken zählen zu den Hauptleidtragenden der COVID-19-Pandemie. Das ist evident. Die so genannten Kollateralschäden durch die heruntergefahrenen Ambulanzen und Spitäler waren und sind in dieser Gruppe außerordentlich groß. Die Menschen haben Therapien nicht erhalten, erlitten Schübe und waren schwer verunsichert. Dabei blieb es sowohl für die einzelnen PatientInnen als auch für die Patientenorganisationen nicht nachvollziehbar, warum die Kliniken erst Mitte bis Ende Juni wieder auf 75 % der Kapazität hochgefahren wurden. Dies dürfte in einem so hoch entwickelten Gesundheitssystem wie dem österreichischen nicht nötig sein. Vielmehr müsste es problemlos machbar sein, insbesondere die chronisch kranken Menschen unverändert weiter zu betreuen.
Bei den ÄrztInnen stießen die PatientInnen zwar auf Verständnis, aber die meisten haben dennoch nicht gewagt dagegen aufzutreten. Erst die Interventionen von ChronischKrank verbunden mit einem hohen medialen Druck, den wir gezielt aufgebaut haben, hat ein Umdenken gebracht und auch in Einzelfällen unmittelbar geholfen. Wir haben also intensiv über die Situation von chronisch Kranken kommuniziert und auch die PatientInnen sowie Angehörigen direkt informiert. Dabei ist es sogar gelungen, mit Gesundheitsminister Anschober an einem Strang zu ziehen und zum Beispiel mit einem gemeinsamen Video die wichtigsten Fragen zu beantworten und die Sorgen vieler zu lindern. Inzwischen wird diese direkte Kommunikation auch von Seiten des Ministeriums geschätzt, und wir haben zu einem sehr frühen Zeitpunkt detaillierte Fakten bekommen, mit denen wir unsere Community sachlich informieren und beruhigen konnten.
Das war ungeheuer wichtig, denn die Ängste der Menschen sind neben ihrer Grunderkrankung enorm – und Ängste sowie Probleme sind quasi „ansteckend“. Aktuell erhalten wir etwa rund 200 Anfragen pro Tag zum Thema Freistellung von Hochrisiko-PatientInnen. Was nicht verwunderlich ist, wenn man davon ausgeht, dass es geschätzt um die 90.000 Hochrisiko-PatientInnen in Österreich gibt. Die wollen verbindliche Regelungen, auf die sie sich berufen können, und so etwas wie Planungssicherheit. Gleichzeitig gilt es aber auch darauf zu achten, dass Schutzmaßnahmen nicht ins Gegenteil umschlagen und in die Grund- und Freiheitsrechte der Menschen eingreifen. Datenschutz ist also ein großes Thema, und ebenso sind wir wachsam, damit es nicht zu einer Stigmatisierung chronisch Kranker kommt.
Die Regierungsverantwortlichen werden nach unserer Wahrnehmung von den Menschen mit einer chronischen Erkrankung zwar prinzipiell als gute Krisenmanager empfunden. Aber diese Einschätzung ist fragil. Wenn die Betroffenen durch eine Veränderung der Situation oder eine neue Regelung Verunsicherung erleiden, ist das Vertrauen schnell weg. All diese Einblicke geben wir ungefiltert an die Entscheidungsträger weiter, und das hilft letztlich beiden Seiten.
Sehr positiv haben die PatientInnen – und da wage ich es, für die meisten zu sprechen – die Einführung von e-Health, e-Rezept und Telekonsultation erlebt. Vor allem die Möglichkeit, psychologische oder psychotherapeutische Betreuung auch virtuell wahrzunehmen, war eine große Erleichterung für viele. Nun hoffen wir, dass diese Neuerungen erhalten bleiben.
Eine Stärkung erwarten wir uns hingegen auf dem Gebiet der klinischen Studien. Zwei Drittel der PatientInnen in unserem Umfeld sind meines Erachtens positiv gegenüber klinischen Studien eingestellt und schätzen den „Sonderstatus“, den das genaue Monitoring und die intensive Betreuung mit sich bringen. Daher ist es schade, dass immer weniger Studien in Österreich angesiedelt werden.
Bei einem Blick in die Zukunft wünsche ich mir einen wirkungsvollen Schutz der Hochrisikogruppe und ihrer Angehörigen sowie den ungehinderten Zugang der Betroffenen zu den Krankenhäusern und FachärztInnen – auch für den Fall einer markanten Steigerung der Infiziertenzahlen. Ein nochmaliger KrankenhausShutdown sollte nicht passieren. Gleichzeitig habe ich Verständnis für die Entscheidungsträger: Es gibt nunmal keine BestPracticeBeispiele für eine derartige Pandemie, und da sind negative Erfahrungen nahezu unvermeidbar. Aus diesen Erfahrungen sollte man lernen, um es beim zweiten Mal besser zu machen.
Mag. Jürgen E. Holzinger ist Soziologie und Gründer sowie Obmann des Vereins ChronischKrank Österreich.
Das gesamte Grünbuch gibt es kostenlos zum Download auf fopi.at.